Wie häufig an solchen Tagen schaffen wir es nicht, früh aus den Betten zu kommen. Gegen 10:30 Uhr verlassen wir die Hütte. Nach vier Kilometern auf dem Rv 17 in Richtung Sandnessjøen biegen wir rechts auf eine unbefestigte Straße ab. Der Himmel ist wolkenverhangen, aber Blau schimmert an einigen Stellen durch. Die Gipfel der "Syv Søstre" sind zum Glück wolkenfrei. Gute Voraussetzungen für eine Bergtour.
Die Straße führt durch flaches Gebiet, das mit dichtem niedrigen Birkenwald und Buschwerk bewachsen ist. Dazwischen liegen immer wieder grasbewachsene Flächen. Obwohl die Wälder nicht großflächig sind, können wir uns gut vorstellen, warum wir gestern Abend keinen Elch zu Gesicht bekommen haben.
Ein Schild weist zu einem ersten Parkplatz unterhalb des 1010 Meter hohen Kvasstinden hin. Auskunft über den Schwierigkeitsgrad der einzelnen Berge gibt eine Hinweistafel in norwegisch. Wir wollen zwar so hoch wie möglich, ohne aber gleich den schwierigsten Berg zu nehmen. Unsere Wahl fällt auf den 1037 Meter hohen Skjæringen, den zweithöchsten Gipfel der "Syv Søstre", der als familienfreundlich beschrieben wird. Doch von hier aus zu starten ist uns zu weit. Ein paar Kilometer weiter liegt links der Straße ein weiterer Parkplatz. Ein Wandererzeichen auf dem Hinweisschild deutet darauf hin, daß wir hier richtig sind.
Gegenüber dem Parkplatz führt ein befahrbarer Feldweg leicht aufwärts zu einem Bauernhof. Links liegt eine große Wiese mit hohem Gras, auf der eine rote Scheune, gedeckt mit Wellblechplatten, steht. Rechts des Weges ist dichter niedriger Wald. Von hier aus gut sichtbar ist der felsige Hang, der zwischen dem Skæringen linkerhand und dem Tvillingene rechterhand liegt. Die Doppelgipfel der Tvillingene wirken höher als der Skjæringen.
Kurz hinter dem Hof verengt sich der Weg zu einem Trampelpfad. In einer Senke fließt rechts ein Bergbach. Von diesem sieht man nicht viel, denn der Pfad ist beidseitig dicht bewachsen. Entlang der Berge zieht sich über Hügel ein dichter Waldgürtel, in dem Birken und Tannen vorherrschen. Der Wald öffnet sich und die erste steile Hangstufe wird sichtbar. Der Weg bis zum Hang ist hier etwas sumpfig. Dort geht es dann steil bergauf und wir gewinnen schnell an Höhe. Wir legen eine kurze Pause ein und schauen auf das Mosaik aus Wiesen, Feldern und Wäldern, durchsetzt mit einzelnen Gehöften.
Nach der Überwindung einer weiteren Felsstufe bietet sich uns ein idyllisches Bild. Der Bergbach zur rechten fällt über eine drei Meter hohe Felsstufe in einen glasklaren kleinen See, der von ein paar Fjellbirken eingerahmt wird. Hier überholt uns ein junger Mann mit Turnschuhen und ohne Gepäck. Er nimmt einen Schluck aus dem Bergbach und läuft leichtfüßig weiter. Etwas neidisch schauen wir ihm nach. Der Pfad, jetzt weniger steil, führt durch eine Senke auf die Südwand des Skjæringen zu. Wir sind froh, daß der Himmel noch bedeckt ist, denn auch ohne Sonne ist der Aufstieg schon schweißtreibend genug.
Eine besonders steile Felsstufe versperrt uns den Weg. Bei Regen wäre der Auf- oder Abstieg über die glattgeschliffenen Felsbänder riskant. Doch dieser direkte Weg nach oben beschert uns immer bessere Weitsichtbilder. Jenseits des Alstfjorden erhebt sich die im Süden mit hohen Bergen bedeckte Insel Dønna.
Wir befinden uns jetzt zwischen den beiden steilen Felshängen des Skjæringen im Norden und dem schrofferen Felshang der Tvillingene im Süden. In schattigen Lagen halten sich hier oben noch Schneefelder.
Auf dem nächsten Felsabsatz rasten wir. Der Himmel klart sich auf. Der weitläufige felsige Talkessel liegt jetzt hinter uns. Wir überqueren ein kleines Rinnsal, erklimmen noch ein paar Felsstufen und stehen dann auf dem Gipfelgrat zwischen den Tvillingene und dem Skjæringen. Mag der Aufstieg für norwegische Verhältnisse als leicht eingestuft werden, geschafft sind wir trotzdem. Immerhin liegen fast 800 Höhenmeter hinter uns.
Die Ausblicke, die jetzt auch in östlicher Richtung möglich sind, entschädigen allemal für die Mühen des Anstiegs. Jenseits des Vefsnfjorden liegt eine felsige Bergwelt mit abgerundeten Kuppen, die sich bis zur E6 hinzieht. Nur im Südosten überragen der 1162 Meter Finnkneet und der 1068 Meter hohe Lille Finnkneet die rundlichen Berge.
Ein starkes Lüftchen weht zwischen den beiden Gipfeln. Im Windschatten auf der Ostseite des Grates legen wir eine Fotopause ein. Unter uns liegt ein mit Eisschollen bedeckter Bergsee. Wer bis hierhin gekommen ist, muß sich entscheiden, ob er die Route zu den Tvillingene oder den langgezogenen Gipfelgrat zum Skjæringen nehmen will.
Plötzlich hören wir ziemlich nah Hundegebell. Erstaunt gehen wir auf den Grat und sehen, wie ein Wanderer mit Schäferhund die Felsstufen zum Skjæringen bewältigt. Beide tragen einen Rucksack. Für den Hund sicher auch eine Strapaze. Kurz darauf brechen wir auf. Bis zum Gipfel sieht es noch weit aus. Doch über die "Felstreppen" des Gipfelgrates läßt es sich gut gehen. Nach 45 Minuten kommt uns der Wanderer mit Hund wieder entgegen. Lange kann er nicht auf dem Gipfel gewesen sein.
Unvermittelt taucht die Gipfel-Steinpyramide auf. Geschafft! Uns bietet sich ein fantastischer 360°-Rundumblick. Man weiß garnicht in welche Richtung man zuerst schauen soll. Weit unter uns erstrecken sich die Felder und Wiesen von Alsta in diversen Grüntönen. Und über die Insel Dønne hinweg geht der Blick in nordwestlicher Richtung bis zur fast 60 Kilometer entfernten Vogelinsel Lovunden. In westlicher Richtung verschwimmen hinter Dønna die Schäreninseln von Herøy am Horizont.
Im Norden erhebt sich hinter Sandnessjøen die Insel Tomma 922 Meter aus dem Meer.Nordöstlich von Sandnessjøen führt die Helgelandsbru auf die Insel Alsta. Dahinter erhebt sich auf dem Festland das 848 Meter hohe Lifjella. Überragt wird die Szenerie von den südwestlichen Bergen des Saltfjellet, bedeckt mit Ausläufern des Svartisen-Gletschers.
Im Nordosten, hinter dem Gipfelgrat des Nachbarberges Grytfoten, macht der Vefsnfjorden einen Knick nach Osten und erstreckt sich bis nach Mosjøen an der E6. Nach Süden verbreitet sich der Vefsnfjorden und geht in den Mindfjorden und den Stokkafjorden über. Hier liegt die Insel Rødøya, die wir gestern auch von Tjøtta aus gesehen haben.
Während wir die Ruhe und die Landschaft auf uns einwirken lassen, hören wir Stimmen. Kurz darauf nähern sich zwei Norwegerinnen der Gipfelpyramide. Man begrüßt sich und wir wechseln auf Englisch ein paar Worte mit ihnen. Sie wollen noch weiter auf den Nachbarberg Grytfoten. An dessen Südhang haben sich einige Schneefelder gehalten und ein kleiner eisbedeckter See.
Wir sind keine Typen, die einen Berg raufhasten, einen Rundumblick machen und dann wieder absteigen. Deshalb verbringen wir einige Zeit auf dem Gipfel und merken erst am kühleren Wind, der jetzt stark auffrischt, daß wir an den Abstieg denken müssen. Der Wind treibt die Wolken schneller herbei und wir sind etwas besorgt, daß es regnen könnte. Die steilen Felsplatten könnten beim Abstieg zur Rutschbahn werden. Die Sonne ist jetzt ganz verschwunden, nur im Südwesten über den Schären bricht sie noch ab zu durch die Wolkendecke. Einzelne Inseln werden zeitweise regelrecht angestrahlt.
Während wir auf dem Grat absteigen, wird der Wind immer stärker. Wir sind froh, als wir wieder in den Westhang einsteigen, der im Windschatten liegt. Der Abstieg über die steilen Steinplatten ist ebenso anstrengend wie der Aufstieg. Die Sohlen unserer Meindl-Bergschuhe sind zwar rutschfest, aber man muß voll auftreten, damit man nicht doch ins Rutschen kommt. Aber anstatt des befürchteten Regen klart der Himmel während des Abstiegs wieder auf.
Die restlichen Brote verzehren wir am Rand einer Felsstufe, von der man schon den Waldgürtel sehen kann. Durch den Wald zieht sich eine Stromleitung. Plötzlich bemerkt Otto auf einer Lichtung bei einem Telegrafenmasten zwei Punkte, die sich bewegen. Er baut die Videokamera aufs Stativ und stellt auf die höchste Zoom-Stufe. An den gemächlichen Bewegungen sieht er durch die Kamera, dass es sich nur um Elche handeln kann. Einer verschwindet wieder im Wald, der andere, so sieht es aus, legt sich hin. Otto nimmt ihn mit der Videokamera auf .Trotz 300 mm-Objektiv lohnt ein Dia auf die Enfernung nicht. Wir merken uns aber den Telegrafenmasten, wo wir sie gesehen haben.
Beim weiteren Abstieg verlieren wir sie aus den Augen. Trotzdem nehmen wir uns vor, die Stelle zu erkunden. Wir sind beide etwas aufgeregt, Otto mehr deshalb, ob er noch gute Video-Aufnahmen von den Tieren bekommt. An der Baumgrenze angelangt, müssen wir den Bergbach überqueren, bekommen etwas nasse Füße und auf der anderen Seite erklimmen wir einen dicht bewachsenen steilen Hang. Die Orientierung anhand der Stromleitung ist nicht schwer. Als wir die Lichtung mit dem Strommasten erreichen, ist natürlich kein Elch mehr zu sehen. Wir durchkämmen noch eine Viertelstunde das umliegende Waldstück, aber die Tiere haben sich unsichtbar gemacht.
Etwas enttäuscht brechen wir die Suche ab. Wir sind auch ganz schön geschafft. Die Vorfreude aufs Duschen beschleunigt unsere Schritte. Der Bauer ist immer noch mit seinem Traktor auf der Wiese am Mähen und unser Auto steht immer noch wohlbehalten als einziges Fahrzeug auf dem Parkplatz. Die Abendsonne taucht den Skjæringen und die Tvillingene in ein freundliches Licht. Es ist 21:30 Uhr, wir spüren unsere Füße, sind aber voll zufrieden über die erlebten Eindrücke, sowie die fantastischen Ausblicke.
Morgen geht es über Mosjøen weiter zum Børgefjell.